«Alpine Solaranlagen liefern dreimal so viel Winterstrom»

Vor Kurzem ging an der Muttsee-Staumauer die grösste alpine Solaranlage der Schweiz in Betrieb. Realisiert haben sie das Swisspower-Stadtwerk IWB und Axpo. Welches Potenzial hat der Solarstrom aus den Bergen? Und welche Hürden müssen solche Projekte nehmen? Antworten dazu von Prof. Jürg Rohrer, Dozent für erneuerbare Energien und Energieeffizienz an der ZHAW.

Warum sind alpine Solaranlagen wichtig für den Umbau des Energiesystems?

Jürg Rohrer: Beim Ausbau der erneuerbaren Energien in den Siedlungsgebieten kommen wir viel zu langsam voran. Um unsere Ziele zu erreichen, müsste wir mindestens fünfmal schneller sein. Wir nutzen das riesige Potenzial zu wenig, das unsere Dächer und Fassaden für die Photovoltaik haben – gerade auch bei Bestandsbauten. Als zweitbeste Lösung bieten sich Solaranlagen auf bestehenden Infrastrukturen wie Parkplätzen oder Lärmschutzwänden und auf freien Flächen an. Bei Letzteren sind Standorte in den Alpen interessant, weil die Anlagen dort etwa dreimal so viel vom dringend benötigten Winterstrom liefern wie im Flachland.

Jürg Rohrer, Dozent für Erneuerbare Energien und Energieeffizienz, am Institut für Umwelt und Natürliche Ressourcen, ZHAW
Jürg Rohrer, Dozent für Erneuerbare Energien und Energieeffizienz, am Institut für Umwelt und Natürliche Ressourcen, ZHAW
«Wir nutzen das riesige Potenzial zu wenig, das unsere Dächer und Fassaden für die Photovoltaik haben – gerade auch bei Bestandsbauten.»

Weil dort kein Nebel liegt und die Sonneneinstrahlung stärker ist?

Richtig. Und weil der Schnee die Strahlung gut reflektiert. Das führt besonders bei bifazialen Modulen, die das Sonnenlicht auf beiden Seiten in Strom umwandeln können, zu einer vergleichsweise hohen Produktion.

Lässt sich das Potenzial für alpine Solaranlagen in der Schweiz abschätzen?

Ja, Studien haben es berechnet und dabei auch wirtschaftliche Rahmenbedingungen einbezogen. Damit die Gestehungskosten des Stroms vertretbar sind, muss sich eine alpine Solaranlage in der Nähe eines Einspeisepunkts zum bestehenden Netz befinden. Der Bau einer kilometerlangen Anschlussleitung macht eine Anlage unwirtschaftlich. Wenn man das berücksichtigt, ergibt sich ein Produktionspotenzial zwischen fünf und zehn Terrawattstunden pro Jahr. Dann sprechen wir aber von Anlagen auf vielen Quadratkilometern Freifläche – und nicht nur von Panels auf ein paar Alphütten.

Sie haben die Gestehungskosten erwähnt. Lassen sich diese auf das Niveau von Solaranlagen im Flachland bringen?

Nicht auf die heutigen. Der Anlagenbau in den Bergen ist aufwendiger und teurer. Doch im Flachland liegen die Kosten des Winterstroms künftig ebenfalls höher, weil die Energieunternehmen den Aufwand für die Speicherung einrechnen müssen. Aus Kostensicht ist die beste Massnahme, unsere Bestandsbauten energetisch zu sanieren. Dadurch benötigen wir im Winter weniger Strom für die Wärmepumpen.

Sind alpine Solaranlagen wie jene am Muttsee auch in anderen Ländern ein Thema?

Österreich setzt schon lange auf Photovoltaikanlagen im Berggebiet. Sie sind jedoch auf Freiflächen montiert und nicht an Staumauern. Allerdings dürfte auch in der Schweiz die Solaranlage am Muttsee von ihrer Grösse her eine Ausnahme bleiben. So gut wie diese Staumauer eignet sich kaum eine andere. Denn die meisten Staudämme wurde bewusst in engen Tälern errichtet, um möglichst wenig Beton verbauen zu müssen.

Welche Herausforderungen sind mit dem Bau alpiner Solaranlagen verbunden, zusätzlich zur bereits erwähnten Nähe zu einem Einspeisepunkt?

Erstens spielt die Zugänglichkeit eine wichtige Rolle – zuerst für den Bau und später für die Wartungsarbeiten. Wenn ich jedes einzelne Panel mit dem Helikopter hochfliegen muss, wird die Montage äusserst aufwendig und die Ökobilanz der Anlage schlechter. Zweitens müssen Solaranlagen in den Bergen so gebaut werden, dass die Panels im Winter nicht im Schnee liegen. Denn wenn dieser auftaut und Richtung Tal fliesst, setzen sich riesige Kräfte frei, welche die Module beschädigen. Die Montage mehrere Meter über dem Boden bedeutet einen erheblichen Aufwand, besonders für die Verankerung. Weitere Herausforderungen in den Alpen sind der Wind und die Temperaturschwankungen.

Gibt es bereits Technologien, die diese Anforderungen erfüllen?

Ja, noch fehlen aber die langjährigen Erfahrungen damit. Wir von der ZHAW betreiben zusammen mit EKZ und dem Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF selbst eine Versuchsanlage oberhalb von Davos auf 2500 Metern Höhe. Sie bewährt sich.

Welche politischen Massnahmen würden solche Projekte erleichtern?

Die Montage von alpinen Solaranlagen gilt heute als Bauen ausserhalb der Bauzone. Deshalb ist es fast unmöglich, eine Bewilligung für eine Anlage auf einer Freifläche zu erhalten. Hier besteht Handlungsbedarf. Meiner Meinung nach sollte die Politik der einheimischen Stromproduktion aus erneuerbaren Energien eine höhere Bedeutung beimessen – seien es Solaranlagen oder Windenergieanlagen. Noch wichtiger als politische Massnahmen für Anlagen im alpinen Raum sind aber stärkere Anreize für Solaranlagen auf Gebäuden. Wenn wir dieses Potenzial endlich besser ausschöpfen, halten wir den Bedarf an Freiflächenanlagen geringer.

Reicht das bestehende Fördersystem aus, um Anlagen in den Bergen zu forcieren?

Nein. Aber derzeit sind mehrere Fördervarianten im Gespräch. Die Schweiz fährt bei der Förderung der erneuerbaren Stromproduktion generell einen Sonderzug. Im Gegensatz zu fast allen Ländern rundherum arbeiten wir mit Einmalvergütungen anstelle von gleitenden Marktprämien. Das macht die Investition in Grossanlagen – ob in den Alpen oder im Flachland – schwer kalkulierbar und für kleinere Akteure riskant. Meines Erachtens sollte die Schweiz ihre Fixierung auf Einmalvergütungen überdenken und wieder Einspeisetarife in Betracht ziehen. Denn sie bedeuten eine grössere Investitionssicherheit. Dabei sollten Anlagen, die viel Winterstrom produzieren, wegen ihrer wichtigen Rolle für die Versorgungssicherheit höher entschädigt werden. Zudem plädiere ich dafür, die sehr unterschiedlichen Einspeisetarife schweizweit zu vereinheitlichen, damit sie langfristig kalkulierbar werden.

Zur Person

Prof. Jürg Rohrer ist Dozent für erneuerbare Energien und Energieeffizienz am Institut für Umwelt und Natürliche Ressourcen der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Er leitet die Forschungsgruppe Erneuerbare Energien und die Master Research Unit Ecological Engineering.