«Der Klimawandel ist kein Hirngespinst der Zukunft»

Der Klimawandel sei zwar in den Köpfen der Menschen angekommen, aber noch fehle der politische Wille, entsprechende Massnahmen umzusetzen, sagt Klimaforscher und ETH-Professor Reto Knutti. Deshalb sei ein Ja zum Stromgesetz besonders wichtig, denn dieses ebne den Weg für die Energiewende.

Reto Knutti, wie reagieren Sie, wenn Sie gefragt werden, ob es den Klimawandel überhaupt gibt?

Reto Knutti: Diese Frage ist zum Glück seltener geworden. Inzwischen haben die meisten begriffen, dass es den Klimawandel gibt. 2023 war das wärmste Jahr weltweit. Ab Juni 2023 wurde sogar für jeden Monat der Temperaturrekord gebrochen. Zudem können wir feststellen, dass im Alpenraum im Februar noch nie so wenig Schnee lag wie in diesem Winter. Der Klimawandel ist also kein Hirngespinst der Zukunft. Er ist hier, und wir spüren ihn in verschiedenen Bereichen. Wir erleben zum Beispiel Hitzewellen und Trockenperioden, es kommt vermehrt zu Starkniederschlägen und das Gletschervolumen in der Schweiz ist in den letzten zwei Jahren um zehn Prozent zurückgegangen.


Sie sagen, der Klimawandel sei inzwischen in den Köpfen der Schweizerinnen und Schweizer angekommen. Und doch scheint es bei der Energiewende nur langsam vorwärtszugehen. Reicht die Zeit überhaupt noch, um bis 2050 das vom Bundesrat festgelegte Netto-Null-Ziel zu erreichen?

Die Zeit würde reichen. Die Dekarbonisierung, also der Umstieg von fossilen auf erneuerbare Energiequellen, wäre hier in der Schweiz bis 2050 machbar. Wir haben genügend finanzielle Mittel, eine grosse Innovationskraft und gut ausgebildete Leute. Aber es mangelt am politischen Willen und an einem gemeinsamen Verständnis, wie die nötigen Massnahmen umgesetzt werden sollen. Wir sind uns alle einig, dass wir dieses Ziel ansteuern müssten. Aber wir sind uns nicht einig, wie wir es erreichen werden – fast so, als stünden wir uns selbst auf den Füssen herum.


Als Klimaforscher in den 1980er-Jahren an die Politik appellierten, etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen, wurden sie nur belächelt. Wird die Wissenschaft heute ernster genommen als damals?

Die wissenschaftlichen Fakten sind anerkannt, wir sind uns einig, dass es Veränderungen braucht. Aber gleichzeitig müssen wir ehrlich sein: Aus den Fakten der Naturwissenschaft sind bisher kaum politische Entscheide gefolgt und somit auch keine gesellschaftlichen Handlungen. Die Suche nach Lösungen ist ein politischer Aushandlungsprozess. Und dieser ist in den letzten Jahren immer schwieriger geworden. Die Politik ist polarisierter geworden, Partikularinteressen stehen vor dem Gesamtwohl, und an allen Fronten werden Grabenkämpfe ausgetragen. Das macht es schwierig, Massnahmen umzusetzen. Das gilt sowohl für den Klimawandel wie auch für die Energiewende.


Ein Schritt in die richtige Richtung könnte das neue Stromgesetz sein, über das wir am 9. Juni abstimmen. Die Vorlage schafft die Grundlage, um in der Schweiz mehr Strom aus erneuerbaren Energiequellen zu produzieren. Warum ist es wichtig, dass diese Vorlage angenommen wird?

Um das Netto-Null-Ziel zu erreichen, brauchen wir mehr Strom. Zum Beispiel, um Wärmepumpen zu betreiben oder Elektrofahrzeuge zu laden. Elektrifizierung ist die einfachste und günstigste Möglichkeit, von der fossilen Energie wegzukommen. Zudem fallen irgendwann die bestehenden Kernkraftwerke weg. Die Schweiz kommt also nicht umhin, ihre Stromversorgung massiv auszubauen, insbesondere die Wasserkraft und die Solarkraft. Und es kommt ein weiterer Punkt dazu.


Welcher?

Der Krieg in der Ukraine hat uns aufgezeigt, wie gross unsere geopolitische Abhängigkeit ist, insbesondere von Gas aus Russland. Wollen wir diese Abhängigkeit reduzieren, gibt es kurzfristig nur eine Lösung, nämlich den Ausbau der erneuerbaren Energieversorgung im eigenen Land. Diese stärkt die Versorgungssicherheit, schafft Innovation und Planungssicherheit für Industrie und Werke. Das wird sich langfristig auch finanziell lohnen. Mit einem Ja zum Stromgesetz werden nicht konkrete Projekte und Massnahmen beschlossen. Aber es gibt den Rahmen vor, in dem wir uns künftig bewegen können und ebnet so den Weg für die Energiewende.


Wird das Stromgesetz angenommen, sind Energielieferanten verpflichtet, bei den Kund:innen Effizienzmassnahmen umzusetzen und kontinuierliche Verbesserungen der der Stromeffizienz nachzuweisen. Was heisst das für die Stadtwerke konkret?

Es ist sehr wichtig, dass die Energieeffizienz verbessert wird – und zwar in allen Bereichen. Wie genau dies geschehen soll, kann ich nicht beantworten. Es ist richtig, auf den gesteigerten Energieverbrauch mit dem Zubau von Kapazitäten zu reagieren. Aber wir müssen uns auch überlegen, wie wir unsere Energie besser nutzen können. Grosses Potenzial liegt sicher bei den dynamischen Strompreisen. Im Moment ist es so, dass der Strom für Konsument:innen immer gleich viel kostet, egal zu welcher Tageszeit. Es gibt für die Verbraucher:innen keinen Grund, zu gewissen Zeiten Strom zu sparen. Dynamische Stromtarife schaffen hier einen Anreiz, den Strom dann zu verbrauchen oder zu speichern, wenn er im Übermass vorhanden ist und dann zu sparen, wenn es nicht genug davon gibt. So können die Lastspitzen gebrochen werden, gleichzeitig wird Strom gespart.


Wir sprechen häufig über das, was noch gemacht werden muss. Aber es gibt schon heute viele zukunftsweisende Projekte und Massnahmen, um die Klimaziele zu erreichen. Welche Projekte stimmen Sie besonders hoffnungsvoll?

Der Kanton Basel-Stadt hat kürzlich beschlossen, bis zum Jahr 2037 den CO2-Ausstoss auf Netto-Null zu reduzieren. Dies, indem das Fernwärmenetz ausgebaut und gleichzeitig die Erdgasversorgung beendet wird. Oder in der Stadt Zürich gilt grüner Strom als Standardstrom. Wer etwas anderes will, muss dies explizit wählen. Dies mit dem Resultat, dass die Mehrheit der Haushalte mit Grünstrom versorgt werden. Mit einem solchen Vorgehen bringt man Konsument:innen dazu, sich umweltfreundlich zu verhalten.


Auf die Stadtwerke kommen neben dem Umbau des Energiesystems noch weitere Herausforderungen zu. Eine, die sie besonders beschäftigt, ist der Fachkräftemangel. Was ist in diesem Bereich zu tun?

Der Fachkräftemangel ist real, auch in der Energiebranche. Um dem entgegenzuwirken, ist es wichtig, dass dank Innovation und technischen Entwicklungen Abläufe effizienter gestaltet werden, sodass weniger Fachkräfte benötigt werden. Das ist bereits heute spürbar, so braucht es inzwischen weniger Mannsstunden als noch vor fünf Jahren, um eine Solaranlage auf einem Dach zu installieren. Aber das allein reicht nicht: Wir müssen in die Bildung und in die Forschung investieren, damit wir genügend Fachkräfte haben – vom Solarmonteur bis zur Ingenieurin. Eine unserer wichtigsten Ressourcen hier in der Schweiz sind gut ausgebildete Fachkräfte.


Nachhaltigkeit beschränkt sich nicht nur auf den Energiebereich. Die nachhaltige Entwicklung berücksichtigt neben ökologischer Verantwortung gesellschaftliche Solidarität und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Wie ordnen Sie diese Entwicklung ein?

Sprechen wir von Nachhaltigkeit, ist damit immer das Dreieck Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft gemeint. Und zwischen diesen besteht seit jeher ein Spannungsfeld. Schauen wir die letzten 100 Jahre an: Dank der wirtschaftlichen Entwicklung konnten viele Nachhaltigkeitsziele im sozialen Bereich erreicht werden. Hierzulande hat die gesamte Bevölkerung Zugang zu Bildung, Energie und Medizin. Gleichzeitig ging die wirtschaftliche Entwicklung oftmals auf Kosten der Natur, was nicht sein darf. Unsere Aufgabe ist es, gangbare Wege zu finden, die Wirtschaft voranzutreiben, ohne dass diese Entwicklung auf Kosten der Natur geht. Gleichzeitig gilt es, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen und niemanden auszuschliessen. Deshalb ist es wichtig, stets im Dialog zu bleiben.


Nachhaltigkeit ist auch bei den Stadtwerken ein grosses Thema. Welche Schritte würden Sie von den Energieanbietern in diesem Bereich erwarten?

Ich wünsche mir, dass die Nachhaltigkeit in allen Unternehmen ein zentrales Prinzip wird, das bei jedem Entscheid als Basis dient. Und dabei geht es eben nicht nur darum, auf Plastiksäcke zu verzichten und Rüstabfälle zu kompostieren, sondern eben um viele weitere Aspekte und deren Zusammenspiel. Aber inzwischen ist das Thema Nachhaltigkeit in der Wirtschaft angekommen – und zwar auch in den Chefetagen. Das stimmt mich zuversichtlich.


Am 24. Mai 2024 geht in Davos der Stadtwerkekongress zum Thema Stadt+ über die Bühne. Sie werden am Kongress als Redner auftreten. Verraten Sie uns bereits jetzt, was wir von Ihnen erwarten dürfen?

Der Stadtwerkekongress findet kurz vor der Abstimmung über das Stromgesetz statt und fällt somit eine heisse Phase. Der Kongress wird ein spannender Treffpunkt sein für Menschen, die sich mit Energiefragen beschäftigen. Es werden alle wichtige Akteur:innen aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Energieversorgung und Wissenschaft da sein. Und gemeinsam werden wir darüber diskutieren, was die Chancen der Schweiz sind. Meine Argumentation ist klar: Die Energiewende hat viele Vorteile, die Schweiz hat alles, was es dazu braucht – Geld, Innovation, Technologien und die richtigen Leute, um die die Neuerungen umzusetzen. Wenn wir also gemeinsame Wege finden, wie wir vorgehen wollen, dann gehen wir einer vielversprechenden Zukunft entgegen.

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