Swisspower | Das Stiefkind der Energiewende

Das Stiefkind der Energiewende

Die Energieeffizienz ist eine der drei Säulen der Energiewende, doch wir nutzen ihr Potenzial noch viel zu wenig. Statt über neue Kernkraftwerke oder Gaskraftwerke zu diskutieren, sollten wir besser darüber sprechen, wie wir den Energiekonsum senken, sagt die Genfer Nationalrätin Delphine Klopfenstein Broggini.

Die Energiestrategie der Schweiz beruht auf drei Säulen: Atomausstieg, erneuerbare Energien und Energieeffizienz. Wo stehen wir bei der Energieeffizienz?

Die Energieeffizienz ist sicherlich das Stiefkind der Energiewende, auch wenn die beiden anderen Säulen in der öffentlichen Diskussion aktuell hinterfragt werden. Der Ausstieg aus der Kernenergie ist ein richtiger Entscheid, während der Ausbau der erneuerbaren Energien – insbesondere der Photovoltaik mit Speicherlösungen wie grünem Wasserstoff – weiter verstärkt werden muss. Aber parallel dazu müssen wir ebenso sehr an der Reduktion unseres Energiebedarfs arbeiten. Es geht nicht darum, Öltropfen in Solarstrom umzuwandeln, sondern darum, unsere Gesellschaft auf Energieeffizienz und -einsparung auszurichten. Leider geht die Revision des Energiegesetzes heute fast nicht auf dieses Thema ein; und in der öffentlichen Debatte entfacht man lieber die Diskussion über die Kernenergie neu oder spricht über Gaskraftwerke, statt das enorme Energieeffizienzpotenzial zu nutzen.

Was sind Ihrer Ansicht nach die grössten Hindernisse für mehr Energieeffizienz?

Die grünste Energie ist die, die man nicht verbraucht; sie ist auch die billigste für die Verbraucher:innen, aber genau deshalb auch am schwersten zu verkaufen! Wir müssen die nicht verbrauchte Energie für die Energieversorger attraktiv machen. Es braucht einen Paradigmenwechsel: Konsumreduktion sollte mehr zählen als Überproduktion. Allerdings sind die Liberalisierung der Energiemärkte und die Privatisierung eines Grossteils der Branche, bei der die Energie zu einem Handels- und Spekulationsgut wird, kaum mit einem sparsamen Energieverbrauch vereinbar. Den Staaten kommt daher beim Schutz der Energie – im Sinne eines öffentlichen Guts – eine zentrale Rolle zu.

Nationalrätin Delphine Klopfenstein Broggini (Genf, Grüne Partei)
Nationalrätin Delphine Klopfenstein Broggini (Genf, Grüne Partei)
«Wir müssen öffentlich thematisieren, dass Energieverschwendung ein ernstes Problem darstellt.»

Im Zuge der Revision des Energie- und des Stromversorgungsgesetzes hat der Bundesrat schweizweit auch neue Förderprogramme für Massnahmen zur Stromeffizienzverbesserung vorgesehen. Welche Hoffnungen setzen Sie in diese Massnahmen?

Die Verschwendung zu reduzieren ist ein ganz wesentlicher Schritt. Einer WWF-Studie zufolge werden fast 40 Prozent des Stroms, den wir täglich verbrauchen, aufgrund veralteter Technik und schlechter Angewohnheiten verschwendet. Die Schweizerische Energie-Stiftung schätzt die Kosten dieser Verschwendung für Unternehmen, Haushalte und die öffentliche Hand auf jährlich 10 Milliarden Franken. Wir müssen öffentlich thematisieren, dass Energieverschwendung – ebenso wie Lebensmittelverschwendung, die bereits stärker im Bewusstsein verankert ist – ein ernstes Problem darstellt. Es geht darum, kostengünstige, geruchlose und ständig verfügbare Energie sichtbar und greifbar zu machen. In diesem Sinne sind die neuen Förderprogramme des Bundesrates für Massnahmen zur Stromeffizienzverbesserung von wesentlicher Bedeutung. Wichtig ist zudem, diese zu koordinieren, um sich bezüglich der angewandten Methoden, durchgeführten Aktionen und getroffenen Massnahmen auszutauschen. Ebenso muss für ausreichende Finanzierung gesorgt werden.

Welche Instrumente und Finanzierungsmodelle gibt es für Energieeffizienzprogramme? Wie sieht es mit der Wirksamkeit aus? Swisspower und SIG laden Sie ein, diese Fragen in einem Online-Event am Montag, 29. November 2021, zu vertiefen. Neben nationalen und lokalen Ansätzen werfen wir auch einen Blick in die USA.

Programm und Anmeldung

In der Westschweiz und insbesondere in Genf hat die Energieeffizienz bereits einen hohen Stellenwert. Welche Faktoren tragen dazu bei?

Entscheidend ist das Engagement der Services Industriels de Genève. Mit ihrem Energiesparprogramm, das seit über zehn Jahren läuft, sind sie Vorreiter auf diesem Gebiet: ECO 21 hat in einem Kanton mit 500’000 Einwohner:innen bereits eine Einsparung von mehr als 205 Gigawattstunden pro Jahr erzielt, was dem Verbrauch von fast 70’000 Haushalten entspricht. Dies entspricht wiederum 35 Millionen Franken, welche die Haushalte sparen konnten, 253’000 nicht erzeugten Tonnen CO2 (d. H. den CO2-Emissionen aller im Kanton Genf immatrikulierten Fahrzeuge während 16 Monaten), 117 Millionen Franken, die in die lokale Wirtschaft geflossen sind, sowie 552 Arbeitsplätzen, die auf Schweizer Boden geschaffen wurden. Das Programm ist einfach und verfolgt das Ziel, weniger – respektive anders – zu konsumieren, ohne dabei auf Komfort zu verzichten. Dabei geht es zunächst um «Verstehen», dann um «Umsetzen» – Schritt für Schritt im eigenen Haushalt: Glühbirnen und Energiefresser austauschen oder Wasserhähne mit Durchflussbegrenzern ausstatten. Auf kommunaler Ebene geht es darum, die Behörden zu ermutigen, Apparaturen und Anlagen zu optimieren.

Effizienz ist wichtig – reicht das oder müssen wir auch über Suffizienz nachdenken?

Damit die Energiewende gelingt, müssen wir in drei Bereiche gleichzeitig investieren: Erstens in die massive Förderung der erneuerbaren Energien, die lokale Arbeitsplätze schafft, uns unabhängig macht von Erzeugern fossiler Brennstoffe und eine Absicherung gegen hohe Energiepreisschwankungen bietet. Zweitens in die Energieeffizienz, indem wir die Energieverschwendung bekämpfen und sparsames Verhalten fördern. Und drittens geht es natürlich auch um Suffizienz. Die Energiewende ist auch eine Abkehr von der Quantität zugunsten der Qualität. Das kann zum Beispiel heissen, noch vor der Elektrifizierung des Verkehrs die Anzahl Fahrzeuge zu reduzieren und sich dabei primär auf Städte und Agglomerationen zu konzentrieren, indem wir alternative Transportmittel fördern, «Kurzstrecken-Städte» planen und die Distanz zwischen Arbeitsplatz und Wohnung verkürzen. Es bedeutet auch, den übermässigen Konsum von energieintensiven Produkten zu reduzieren. Und wir müssen auch die Umweltbelastung durch die Digitalisierung bedenken – von der grauen Energie der Hardware bis zum Energieverbrauch durch Datenflüsse und -speicherung. Statt ein hektisches, auf Gewinn ausgerichtetes System in Gang zu halten, dessen Folgen schwerwiegend sind und auf der gesamten Gesellschaft lasten werden, arbeiten wir besser auf ein Gesellschaftsmodell hin, das auf Suffizienz beruht.