Benoît Revaz, Direktor des BFE: «Wir brauchen nicht nur Elektronen, sondern auch Moleküle»

In den vergangenen 25 Jahren hat sich Swisspower zu einer gehörten Stimme in der nationalen Energiepolitik entwickelt. Welche Rolle sieht Benoît Revaz, Direktor des Bundesamts für Energie, für die Stadtwerke-Allianz? Ein Gespräch über Dekarbonisierung, die wachsende Regulierungsdichte und den «Rösti-Plan».

Das Motto der Jubiläumsfeier von Swisspower lautet «Wenn es Swisspower nicht gäbe, müsste man sie erfinden». Warum braucht die Schweiz Ihrer Meinung nach eine Stadtwerke-Allianz?

Benoît Revaz: Viele Stadtwerke existieren seit mehr als einem Jahrhundert. Sie haben die Entwicklung der Infrastruktur in den Städten sichergestellt. Doch jetzt stehen wir mit dem Umbau des Energiesystems vor einer der grössten Herausforderungen unseres Landes – mittendrin: die Stadtwerke. Um diese Herausforderung zu meistern, bringt es ihnen viel, von Best-Practice-Beispielen anderer zu lernen, sich über Erfolge und Misserfolge auszutauschen, Aktivitäten und Investitionen zu poolen. Die Kräfte in einer Interessengruppe zu bündeln, ist sicher sinnvoll. Das nützt den Stadtwerken auch in Bundesbern.

Durch die Annahme des Klima- und Innovationsgesetzes ist unser Land jenem Ziel verpflichtet, das Swisspower schon seit 2012 verfolgt – dem Netto-Null-Ziel bis 2050. Welche Rolle sollten die Stadtwerke auf diesem Weg übernehmen?

Die Stadtwerke haben sich innerhalb der Energiebranche seit jeher stark engagiert. Städte wie Basel, Bern und Zürich investierten zum Beispiel schon anfangs des letzten Jahrhunderts in grosse Wasserkraftanlagen in den Alpen. Heute spielen die Stadtwerke bei der Dekarbonisierung und Elektrifizierung erneut eine zentrale Rolle. Sie können einen wesentlichen Beitrag leisten bei der Dekarbonisierung im Gebäudebereich – Stichwort Fernwärmenetze. Die Dekarbonisierung der Mobilität stellt die Städte ebenfalls vor grosse Herausforderungen. Hier können die Stadtwerke insbesondere für die städtischen ÖV-Unternehmen ein wichtiger Partner sein, damit diese ihre Flotten elektrifizieren können.

Aus Sicht von Swisspower geht der Zubau der erneuerbaren Energien noch viel zu langsam. Wie sieht Ihr Plan aus, um ihn zu beschleunigen?

Es stimmt: Mit Ausnahme der Photovoltaik sind wir zu langsam unterwegs – bei Wind, Wasserkraft, Biomasse und Geothermie. Da gibt es verschiedene Anstrengungen des Bundesrats und des Parlaments, um die Verfahren zu beschleunigen. Doch das ist komplex, weil wir uns nicht in einem juristischen Leerraum befinden. Mit dem Bundesgesetz für eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien haben wir aber wesentliche Verbesserungen erreicht: Wir verfolgen bei den erneuerbaren Energien jetzt verbindliche Ziele statt nur Richtwerte, und auch die Anpassungen bei der Interessenabwägung zwischen Schutz und Nutzen helfen uns. Allerdings gib es keine Universallösung für die verschiedenen Projekte. Um vorwärtszukommen, bleibt nichts anderes übrig, als bei jedem Projekt noch stärker an der Qualität zu arbeiten und die Stakeholder – gerade auch die kritischen – noch besser einzubeziehen.

Hans-Kaspar Scherrer, Verwaltungsratspräsident von Swisspower, hat die Idee eines «Rösti-Plans» entwickelt, der drei Schwerpunkte umfasst: erstens die Steigerung der Produktionskapazität bei der Grosswasserkraft, zweitens der schnellere Ausbau von Wind- und Solaranlagen mit hohem Winteranteil und drittens Massnahmen, um überschüssigen Strom vom Sommer in den Winter transferieren zu können – wie Power-to-X-Anwendungen und Speicher. Ist der Plan eine gute Idee?

Vieles geht bereits in diese Richtung. Die Pläne dafür haben wir. Doch es hapert noch bei der Umsetzung. Das zeigt sich etwa bei den 16 Projekten des Runden Tisches Wasserkraft, obwohl sie sogar explizit in einem Gesetz aufgeführt sind. Aber: Die Schweiz funktioniert nicht nach dem Top-down-Prinzip. Wenn Projekte zu wenig lokale Unterstützung haben, sind die Chancen gering, die Produktionsanlagen jemals bauen zu können. Um Projekte voranzutreiben, führt kein Weg daran vorbei, die verschiedenen Interessen in Einklang zu bringen.

Beim Umbau des Energiesystems müssen die Städte und Stadtwerke einen grossen Teil der Investitionen stemmen – etwa für Wärmenetze als Ersatz fossiler Heizungen. Damit sind sie finanziell zusehends überfordert. Mit welcher Unterstützung durch den Bund können sie künftig rechnen?

Der schrittweise Ausstieg aus dem Gas als Heizenergie bedeutet für die Stadtwerke: Sie verlieren allmählich eine wichtige Einnahmequelle und müssen mit den Wärmenetzen nun eine Alternative entwickeln, die hohe Investitionen erfordert. In diesem Zusammenhang ist oft die Rede vom hohen Finanzierungsbedarf. Doch die Städte haben die Möglichkeiten, ihre Investitionen kompetitiv zu finanzieren. Eine grössere Herausforderung für die Stadtwerke sind die Abnahmerisiken: Gebäudesanierungen und der Klimawandel können dazu führen, dass der Wärmebedarf tiefer ist als heute. Das kann man im Businessplan vorsehen. Aber wenn ein grosser Abnehmer plötzlich wegfällt, kann dies die gesamte Wirtschaftlichkeit eines Netzes bedrohen. Deshalb schafft das Klimagesetz die Möglichkeit, eine Risikogarantie zu erhalten – unseres Erachtens ein gutes Mittel, um die Risiken bei der Entwicklung eines Wärmenetzes besser zu beherrschen.

Wie sieht diese Risikogarantie aus?

Ich mache zwei Beispiele: Fällt bei thermischen Netzen ein wichtiger Kunde weg, zum Beispiel ein Spital, weil es geschlossen wird, verschwindet ein grosser Abnehmer von Wärmeenergie. Aber auch bei der Wärmeproduktion kann es unvorhergesehene Veränderungen geben, die eine Auswirkung auf die Betreiber haben, wenn ein Rechenzentrum beispielsweise wegzieht oder die Grundwassermenge unerwartet abnimmt und so die Wärmequelle sozusagen versiegt. Für solche unvorhersehbaren Risiken sieht der Bund eine Absicherung vor. Er übernimmt in solchen Fällen ab Eintritt des Ereignisses bis zu 50 Prozent – maximal 5 Mio. CHF – der benötigten Ersatzinvestitionen oder der nicht mehr amortisierbaren Investition und dies für maximal 15 Jahre ab Inbetriebnahme des Wärmenetzes. Das unternehmerische Risiko oder das Risiko für die technische Planung und Ausführung kann der Bund natürlich nicht übernehmen.

In den kommenden Jahren stehen weitere energiepolitische Weichenstellungen an. Was raten Sie Swisspower, um dabei in Bundesbern als einflussreiche Stimme wahrgenommen zu werden?

Es wäre überheblich von mir, dafür Ratschläge zu erteilen. Was ich aber sagen kann: Ich stelle fest, dass die Dichte und die Komplexität der Regulierung im Energiebereich laufend wachsen. Hier sehe ich die Möglichkeit für die Stadtwerke, sich als glaubwürdige Akteure im Kampf gegen die Regulierungsdichte zu präsentieren und konkrete Vorschläge für eine Reduktion einzubringen. Denn was die Schweiz erfolgreich gemacht hat, ist die Subsidiarität: Der Staat greift nur ein, wenn die Marktakteure nicht in der Lage sind, selbst die passenden Lösungen zu finden. Dieser Grundsatz ist zuletzt etwas verloren gegangen. Zudem finde ich es wichtig, in die politische Diskussion immer wieder eine Systemsicht einzubringen und nicht nur auf die Produktion zu fokussieren, sondern auch Netze, Speicher und Flexibilität im Verbrauch einzubeziehen.

Wie meinen Sie das?

In den letzten Jahren drehte sich die energiepolitische Diskussion fast ausschliesslich um die Stromproduktion. Inzwischen wissen wir, was in diesem Bereich zu tun ist. Nun sollte der Blickwinkel breiter werden: Wir sollten uns auch auf Netze, Speicher, Flexibilitäten und Energieeffizienz fokussieren. Zudem bezieht eine Systemsicht neben Strom auch Wärme und Kälte ein. Sicher: Die Elektrifizierung ist eine Realität. Aber wir brauchen in Zukunft nicht nur Elektronen, sondern auch immer noch Moleküle. Das wird entscheidend sein.